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Kommentar: Microsoft Edge und der kaputte Kompass

Kommentar: Microsoft Edge und der kaputte Kompass

Seitdem Microsoft vor einigen Jahren erstmals eine Vorabversion von Microsoft Edge auf der neuen Chromium-Basis für alle veröffentlicht hatte, konnte der Browser zunächst einen enorm guten Zuspruch verzeichnen und selbst harte Kritiker der Redmonder erkannten die Fähigkeiten des Neuzugangs überwiegend an. Er war leichtgewichtiger und performanter als Google Chrome, brachte im Gegensatz zur alten Basis auf EdgeHTML eine sehr gute Webkompatibilität mit und die Integration des IE-Modus unter Windows macht es möglich, den Internet Explorer als eigene Anwendung Mitte kommenden Jahres zu entfernen.

Mittlerweile dreht sich der Wind aber zunehmend und selbst etablierte Journalisten wie Paul Thurrott und Mary Jo Foley, die Microsoft sonst sehr wohlwollend gegenüberstehen, sprechen den kaputten Kompass bei Edge zunehmend an. Die Schwierigkeit, den eigenen Standardbrowser unter Windows 11 zu wechseln, ist dabei nur ein Beispiel und wurde selbst von anderen Unternehmen wie Mozilla oder Brave schon offen kritisiert. Jüngst hatte auch Jon von Tetzchner, der Mitbegründer von Opera und mittlerweile der Hauptverantwortliche hinter Vivaldi, eine harsche Kritik veröffentlicht und neben diesem auch auf andere Probleme hingewiesen. De facto markieren Punkte wie dieser oder die Empfehlung von Edge bei Suchen in Microsoft Bing nur einen kleinen Teil der Probleme.

Kleine und große Ärgernisse

Zu den größeren Ärgernissen gehören die empfohlenen Browsereinstellungen, die auch immer wieder auftauchen und zur Wiederherstellung mahnen, wenn man einen anderen Standardbrowser als Edge und/oder eine andere Standardsuchmaschine als Bing eingestellt hat. Wie ihr das über einen entsprechenden Flag unterbinden könnt, hatte ich euch als Anleitung an dieser Stelle bereits zusammengefasst. Die entsprechende Anleitung entstand damals auch deswegen, weil Mary Jo Foley sich auf Twitter ganz offen über dieses Thema aufgeregt hat und ich die Gelegenheit nutzen wollte, um zumindest diese Teillösung für alle verfügbar zu machen.

Für die größte Kontroverse sorgen aber mittlerweile die Integrationen diverser Microsoft-Dienste, die Edge zunehmend zur Bloatware verkommen lassen. Während manche davon wie Translator, Math Solver oder Start irgendwo noch sinnvoll sind, kann man das bei anderen Bereichen durchaus hinterfragen. Jüngstes Beispiel, was Microsoft momentan testet, ist ein neues Games Panel, was derzeit aber wohl noch rein optional ist. Würde es zu Project xCloud bzw. Xbox Cloud Gaming weiterleiten, wäre hier durchaus ein Mehrwert gegeben, aber hinter der neuen Funktion steht einmal mehr das MSN-Team, welches hier diverse Casual Games wie Solitaire auflistet. Ob sowas tatsächlich fest in einen Browser gehört, der anders als Opera GX keine spezielle Zielgruppe in dem Bereich anspricht, kann man durchaus bezweifeln.

Der mit der dicken Wampe…

Microsoft Edge ist immer noch ein sehr guter Browser und die Redmonder machen bei kommenden Funktionen wie Picture-in-Picture, Verbesserungen beim PDF-Betrachter oder der neuen RSS-Integration bei den Sammlungen immer noch viele Sachen richtig, wenn es um die Erweiterung mit sinnvollen Neuerungen geht. Es bedeutet aber auch, dass Aktionen wie die oben beschriebenen eigentlich komplett unnötig sind und Edge zunehmend im Licht einer Lachnummer erscheinen lassen, die nicht nur der Zielgruppe der Prosumer unwürdig ist, sondern auch einen negativen Eindruck bei denen hinterlässt, die auch in Unternehmen arbeiten und solche Eindrücke zwischen privater und kommerzieller Nutzung hin und her tragen. Einen Bonus wie Firefox oder Chrome hat Microsoft nunmal nicht, dafür ein angekratztes Image aus der Vergangenheit mit zwei schlechten und teilweise verhassten Vorgängern.

Natürlich bekommt der Ottonormalnutzer davon nicht viel mit, aber der ist eben auch nicht die primäre Zielgruppe von Microsoft. Dafür riskieren sie zunehmend schlechte Presse und überspannen den Bogen momentan auch bis zum Äußersten, wenn selbst Microsoft-nahe Journalisten wie Paul Thurrott öffentlich ein Antitrust-Verfahren wegen solcher Vorkommnisse fordern. Dass der Kompass in der Prosumer-Strategie bei Microsoft irgendwo kaputt ist, sieht man fairerweise auch an anderen Stellen. Betrachtet man zum Beispiel Microsoft Teams, wo die Redmonder den unsäglichen Electron-Client für Unternehmen und Bildungseinrichtungen nun doch weiterentwickeln wollen und parallel dazu zwei weitere Varianten auf Basis von WebView2 vorstellen, die dem Großteil der Nutzer, die kein Windows 11 nutzen, trotzdem nicht zur Verfügung stehen, wird sehr schnell klar, was gemeint ist.

Fazit

Unterm Strich festigt sich so zunehmend ein Eindruck, dass bei Microsoft einiges aus dem Ruder läuft und die Redmonder sich nicht mehr im Stande sehen, mit echter Qualität gegenüber Konkurrenten wie Google zu bestehen. Dort gibt es zwar teilweise ähnliche Aktionen, aber nicht in dem Ausmaß, wie es Microsoft aktuell auf seine Nutzerbasis loslässt. Tatsache ist jedenfalls, dass Microsoft solche Vorstöße in den meisten Fällen überhaupt nicht nötig hätte, weil die Qualität bis auf einige wenige Bereiche wie Bing oder Translator absolut vorhanden ist. Hier liegt es aber an den jeweiligen Teams, hier endlich auch außerhalb des eigenen Heimatmarktes deutlich nachzubessern und die Qualität zu steigern. Die Nutzer mit miesem Druck zu eigenen, möglicherweise minderwertigen Alternativen zu bewegen, kann und darf hier keine Alternative sein.

Im schlimmsten Fall zeigen die Prosumer, die Microsoft auch privat bevorzugen, und die Journalisten, die ihnen sonst eher wohlwollend begegnen, zunehmend die rote Karte. Tragen die Prosumer ihre Erfahrungen mit Edge in die Unternehmen, richtet das unter Umständen nachhaltigen Schaden bei der eigenen Kernzielgruppe an und spielt Konkurrenten wie Google Chrome in die Hände. Und sollten die verantwortlichen Behörden wie in den USA oder der EU wirklich Wind von der Sache bekommen und entsprechende Verfahren einleiten, bringt das Microsoft in ähnliche Fahrwasser, wie sie aktuell schon Alphabet, Meta, Apple und Amazon ausgesetzt sind. Es wäre besser, sie finden die Notbremse deutlich früher.

Über den Autor

Kevin Kozuszek

Kevin Kozuszek

Seit 1999 bin ich Microsoft eng verbunden und habe in diesem Ökosystem meine digitale Heimat gefunden. Bei Dr. Windows halte ich euch seit November 2016 über alle Neuigkeiten auf dem Laufenden, die Microsoft bei seinen Open Source-Projekten und der Entwicklerplattform zu berichten hat. Regelmäßige News zu Mozilla und meinem digitalen Alltag sind auch dabei.

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